Kurzschnabelgänse

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Sonntag, 22. November 2015

Rundmail vom 20.09.2015: Einladung zu einer Autismus-Gruppe in Reykjavik

Letzten Dienstag hatte meine Vermieterin Gúðrun Geburtstag. Unglücklicherweise hatte ich am selben Tage ein Seminar, welches für mich anstrengender war, als ich gedacht hätte. Wir sollten wieder einmal Gruppenarbeit machen und es redeten alle durcheinander. Ich beteiligte mich kaum an der Gruppenarbeit, sondern hielt das einfach nur noch aus und das, wie sich später herausstellte, offenbar schlechter als gedacht. Als ich danach zuhause war, konnte ich mich kaum auf die Vokabeln, welche ich lernen wollte, konzentrieren und war extrem reizbar. Ich sah mich schließlich gezwungen, meine Aufgaben, welche ich an diesem Tage eigentlich vorgehabt hatte, zu machen, liegenzulassen und mich hinzulegen. Ging einfach nicht anders. Ich glaube, zu diesem Seminar werde ich in Zukunft nur die Texte durchlesen und dann noch zur Prüfung antanzen. Werde morgen dem Dozenten schreiben und fragen, ob das möglich sei.
Gegen Abend beschloss ich noch, in die Badewanne zu gehen, was ich normalerweise Mittwoch früh tue, um am nächsten Tage ausschlafen zu können - und hatte dabei natürlich nicht bedacht, dass, wenn jemand Geburtstag hat, in der Regel auch Gäste kommen und da meine Vermieterin eine reiche Verwandschaft hat, waren das auch nicht gerade wenig. Selbstverständlich waren meine Mitbewohner und ich auch eingeladen und alle fragten nun, wo ich nun wäre. Es wurde an die Tür geklopft und ich darüber informiert, dass es Kuchen gäbe. Bei dem Lärm, welchen ich aus dem Nebenzimmer hörte, beschloss ich jedoch, dass das wirklich keine Eile hätte. Obwohl ich seit dem Frühstück kaum etwas gegessen hatte, hatte ich auch nicht wirklich Hunger.
Sobald ich dann aus dem Bade raus und in meinem Zimmer war, klopfte es jedoch an der Tür und eine Frau platzte herein - während ich noch im Handtuch dar stand. Selbstverständlich entschuldigte sie sich, sagte aber vor wieder geschlossener Türe, dass so viele Leute gar nicht mehr da wären und ich ruhig kommen könnte. Anders, als von mir erwartet, wartete sie auch vor der Tür, bis ich fertig war. Sie stellte sich als die andere der beiden Töchter meiner Vermieterin heraus und heißt Vigdís (die eine Tochter namens Rósa fuhr mich ja an meinem ersten Tage durch Reykjavik zum isländischen Einwohnermeldeamt). Sie erkundigte sich nach meinen Isländischkenntnissen und sagte, sich auf der Party unbedingt weiter mit mir unterhalten zu wollen. Meine Hoffnungen, ich könne vielleicht einfach vergessen werden, hatten sich also zu meinem großen Bedauern zerschlagen. Nachdem ich noch um etwas Zeit gebeten hatte, um mir die Haare zu kämmen, ging ich dann zur Party, weil ich glaubte, es mir nicht leisten zu können, da nicht zu erscheinen. Ein bisschen Kuchen passte natürlich noch in mich rein, zumal meine Vermieterin auch meinte, dass er unbedingt noch alle werden müsste - wobei, selbst wenn ich großen Appetit gehabt hätte, wäre das kaum möglich gewesen. Vigdís unterhielt sich zunächst mit meiner estnischen Mitbewohnerin Eva auf Englisch - sie ist, wie bereits in der vorigen Rundmail geschrieben, zu ihrem großen Leidwesen die einzige im Hause, die kein Isländisch kann. Eva meinte u.a., dass die Menschen in Island viel offener wären, als in Estland. In Estland sei es absolut unüblich, auf der Straße von einer fremden Person gegrüßt zu werden und hier passiere ihr das ständig. Mir persönlich ist das auch in Deutschland schon passiert. Die Esten scheinen sehr verklemmt zu sein. An den Rest des Gesprächs erinnere ich mich nicht mehr.
Irgendwann war Eva dann weg und Vigdís kam zur Sache, natürlich diesmal auf Isländisch: Ihre Tochter Sóltís hätte sich meine Facebookseite angeschaut und dabei sei ihr aufgefallen, dass ich in einigen Autismusgruppen sei. Daher die Frage, ob ich auch Autist sei. Mein Verhalten an diesem Abend läge das auf jeden Fall nahe. Als ich bejahte, sagte sie, das träfe sich gut, denn die Sóldís sei nämlich auch Autistin, allerdings nicht mit Asperger, sondern eine "typische (dæmigerð)" Autistin, was immer das auch heißen soll. Frühkindlich kann sie nicht sein, sprechen kann sie nämlich sehr gut. Danach schrieb sie mir noch verschiedene Internetseiten über und für Autisten in Island und eben auch den Namen der Reykjaviker Autismusgruppe, "Út úr svelinni (raus aus der Muschelschale)" auf. Ich solle da unbedingt mal hinkommen. Das sei eine gute Gelegenheit, in Island Fuß zu fassen, gerade für mich.
Sóldís (oder, isländisch konjugiert, Sóldísi, heißt wortwörtlich übersetzt übrigens "Sonnenfee") hatte ich vor diesem Abend nur einmal gesehen, als sie zum Kaffeetrinken vorbeikam. Sie heißt eigentlich Elísabet Sóldís, zweiteres ist aber ihr Rufname. Sie hatte mich etwas genervt, da sie mich ständig auf Englisch ansprach und meine Bemerkungen, lieber Isländisch mit ihr reden zu wollen, gar nicht zu bemerken schien. Sie ist noch 15 Jahre jung, scheint aber sehr selbstsicher und auch ein wenig zickig, dabei aber aufgeweckt zu sein. Sie war an diesem Abend auch da und gerade dabei, meinen beiden Mitbewohnern ein isländisches Kartenspiel zu erklären. Eva fand das ganz super. Genau dasselbe Kartenspiel gäbe es auch in Estland. Benjamin und mir war es aber komplett neu. Ich setzte mich dazu und fragte Sóldís ganz direkt auf Isländisch, ob es stimmte, dass sie auch Autistin wäre, was sie bestätigte, erfreulicherweise diesmal auch auf Isländisch. Natürlich kam gleich die Frage von Benjamin (dessen Isländisch besser ist, als meines), was "Einhverfa (isl. Wort für Autismus" denn nun hieße, was Sóldís auch gleich übersetzte. Bei dieser Gelegenheit habe ich mich also auch gleich meinen Mitbewohnern gegenüber geoutet. 
Es war ihr danach offensichtlich eine Freude, uns die Regeln des Kartenspiels danach in allen Details zu erklären, welches sie natürlich auch souverän gewann, gefolgt von Eva natürlich (der dritte Platz wurde dann nicht mehr ausgespielt). Danach musste (bzw. durfte) Sóldís auch schon gehen, wobei ich es mir nicht nehmen ließ, sie zu fragen, ob sie auf Facebook wäre, was erfreulicherweise der Fall ist. 
Danach sah ich übrigens noch die ersten Polarlichter meines Lebens. Wunderbar. Ich glaube, zu Weihnachten wünsche ich mir einen Fotoapparat. Am Ende war ich aber doch froh, als dieser Tag vorbei war. Ob dieser ganzen Eindrücke war ich ganz erschöpft, konnte in der folgenden Nacht aber trotzdem nur schlecht schlafen.
Ich googelte dann am nächsten Tage auch gleich nach der Gruppe "Út úr skelinni" und wurde zu meinem großen Erstaunen sofort fündig und zwar mit genauem Zeitpunkt und Ort des nächsten Treffens, welches übrigens am morgigen Sonntag stattfindet. Ich weiß noch, wie lange ich in Halle nach der Selbsthilfegruppe suchen musste. Das irritierte mich einigermaßen, denn ich hatte mich auf das selbe Prozedere wie in Halle eingestellt - E-Mail an eine Kontaktperson der Gruppe, Einladung zum Vorstellungsgespräch etc. Ich fragte dann auch gleich Sóldís auf Facebook, ob es notwendig wäre, der Kontaktperson (sie heißt übrigens Jarþrúður), deren E-Mail-Adresse selbstverständlich auch angegeben war, vorher zu schreiben, oder ob ich einfach so kommen könnte. Sie antwortete, dass ich zwar so kommen könnte, es sich aber anböte, Jarþrúður (oder, richtig dekliniert, Jarþrúði) trotzdem zu schreiben, um erstmal ordentlich Eindruck zu schinden und um auf mich aufmerksam zu machen. Isländer schreiben übrigens inoffizielle Nachrichten gerne ohne Punkt und Komma, und das meine ich wortwörtlich. Das macht das lesen nicht gerade einfacher und Sóldís macht da leider auch keine Ausnahme.
Also schrieb ich Jarþrúður, die mich auch gleich zum morgigen Treffen eingeladen hat. Ich soll dabei unbedingt erzählen, wie die Selbsthilfegruppe in Halle organisiert ist und was wir da gemacht haben. Meine Vermieterin hat mir übrigens heute Abend eine E-Mail von Vigdis weitergeleitet, bei welcher es sich um die Einladung Jarþrúðurs (oder, isl. dekliniert, Jarþrúðar) handelte. Offenbar ist sie von meinen erfolgreichen Bemühungen noch nicht in Kenntnis gesetzt worden.
Ich bin auf jeden Fall sehr aufgeregt und weiß gar nicht, was da auf mich zukommt und ob meine Isländischkenntnisse dazu ausreichen werden. Gerade verstehen tue ich für meinen Geschmack immer noch viel zu schlecht, weil mir einfach noch Vokabeln fehlen.
So, ich gehe jetzt schlafen. Seid mir alle herzlich gegrüßt
Karl

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